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I AM BAD

22 April 2019

Vor kurzem habe ich einmal versucht, hochzurechnen, wie viele Recruiting-Gespräche ich in meinem Leben wohl schon geführt habe. Und bin auf eine erstaunliche Anzahl von etwa 6.000 bis 7.000 gekommen. In 27 Jahren kommt schon etwas zusammen.

Man könnte also meinen, ich wäre ein recht erfahrener Recruiter. Aber dann fiel mir ein Recruiting-Handbuch in die Hände – und plötzlich musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ich offensichtlich ein sehr unwissenschaftlicher und unstrukturierter Recruiter bin. Strukturierte Interviews müsse ich führen, las ich da. Damit ich die interviewten Menschen danach auch am gleichen Maßstab messen und vergleichen könne. Und überdies verhaltensbasierte Fragen stellen. Und die verhaltensbasierten Fragen müsse ich mir aus einem Kompetenzmodell erarbeiten.

Daraus entstehen dann Fragenkataloge mit Fragen wie: „Wo sehen Sie sich in 5 Jahren?“, „Was sind Ihre 3 größten Stärken und was Ihre größten Schwächen?“ – so weit, so bekannt. Nicht wirklich neue Erkenntnisse, dachte ich mir weiter. Genau diese Fragen stelle ich nämlich schon seit 20 Jahren nicht mehr. Prinzipiell nicht. Weil sie in jedem Recruiting-Ratgeber für Bewerber auch stehen. Und jeder halbwegs Job-Interessierte sich darauf eine Antwort vorbereitet hat, die ihr/ihm sozial erwünscht erscheint. Und die ich als Recruiter möglicherweise hören will.

Ich will aber keine bestimmten Antworten hören.

Ich will den Menschen kennenlernen. Und der ist so wenig standardisiert wie mein Interview-Fragebogen. Ich habe nämlich keinen.

Jeder Mensch, der mir gegenübersitzt, ist eine individuelle Persönlichkeit mit ganz individuellen Fähigkeiten, Talenten und Erfahrungen. Kein Fragebogen und kein vereinfachendes Kompetenzmodell dieser Welt kann dem gerecht werden.

Jedes Vereinfachen einer Person auf eine Passung auf Kompetenzen oder auf Vergleichbarkeit durch die Kriterien hinter einem strukturierten Fragebogen machen vor allem eines auf: eine Schublade. In die ich den Menschen dann hineinpressen kann, damit er meinem vereinfachten Modell entspricht. Und dadurch kann ich herrlich einfach die Frage beantworten, warum Herr Maier (quasi wissenschaftlich nachvollziehbar und somit valide) für die Funktion passt und Frau Müller nicht (die ich ebenso als scheinbar valide in die andere Schublade gesteckt habe).

Tatsächlich finde ich, dass man durch eine solche Vorgehensweise ein sehr gutes Bild von einem Menschen gewinnen kann. Seine Einstellungen und die dahinterliegenden Glaubenssätze, Werte und Motive. Nämlich das Bild des Recruiters. Der sich die Schubladen gebaut hat. Über den Recruiter sagt dieses Bild tatsächlich einiges aus. Wissenschaftlich valide und reliabel sozusagen.

Freude am Tiefgang

Ich bin und bleibe also ein schlampiger Recruiter. Ich nehme mir mehr Zeit als andere Recruiter, wenn mich ein Mensch wirklich interessiert. Mit einer Stunde komme ich nie aus. Dafür lasse ich mein Gegenüber erzählen. Ohne viel Struktur – ohne enges Zeitkorsett. Ich verweile bei den Erzählungen, bei denen ich das Gefühl habe, mehr über den Menschen und sein Verhalten in bestimmten Situationen hören zu können.

Da gehe ich dann auch in die Tiefe. Und frage nach. Und noch tiefer… „Wie war das genau?“ Und noch tiefer, und noch eine Erklärung dazu, und ein Beispiel. Und dann interessiere ich mich für den Widerspruch, der hier in der Tiefe plötzlich zu einer vorher gegebenen Antwort auftaucht. Und bewege mich auf Ebenen des Nachfragens, in die kein Bewerbungsratgeber je vorgedrungen ist.

Doch dafür brauche ich eben ein wenig mehr Zeit. Und darf keine Fragebögen abarbeiten, sondern muss mich für die Menschen interessieren. Bis in die Tiefe. Oft stoße ich auf Bereiche, in denen mein Gegenüber selber keine schnelle Antwort mehr geben kann. Dann kann ich aber auch vermuten, dass die Antworten und Erklärungen immer echter werden und das Bemühen nach „sozialer Erwünschtheit“ immer mehr abnimmt.

Die Kriterien hinter einem strukturierten Fragebogen machen vor allem eines auf: eine Schublade.

Ich mache dabei die Erfahrung, dass die Menschen sich dann zwar manchmal ertappt fühlen, aber selten unangenehm berührt sind. Weil sie das Gefühl haben, gesehen zu werden. Aufmerksamkeit bekommen. Und dieses Bedürfnis ist in uns allen stark verankert, es ist eines der stärksten Motive und Antreiber des Menschen.

Freude am Menschen

Die Gegenleistung ist, dass ich ein wirklich ehrliches und authentisches Bild von einem Menschen bekomme – aber eben sehr individuell und unstrukturiert.

Ich kann definitiv nicht den Nachweis führen, dass ich dadurch zu besseren Ergebnissen komme, aber jedenfalls ist das eine Methodik, die mir das Rekrutieren nach 7.000 Interviews noch immer als eine unglaublich spannende Tätigkeit erscheinen lässt.

Da sitzt mir ein Mensch gegenüber, der ein ganz individuelles Set an Erfahrungen, Wissen und Einstellungen hat, in einer bestimmten Branche und Tätigkeit, und der sehr gerne dazu bereit ist, mir alle seine Erfahrungen und Einschätzungen zu erzählen und sie mir zu erklären. Ich glaube nicht, dass ich irgendwo in meinem Leben mehr über das Funktionieren von Unternehmen und Branchen verschiedenster Art gelernt habe als durch die Antworten auf meine Fragen in Recruiting-Gesprächen. Jedes Gespräch ist ein Wissens-Geschenk für mich als Recruiter.

Deshalb bin ich auch immer wieder erstaunt, wenn ich junge Recruiter sagen höre, dass das Rekrutieren sehr bald langweilig geworden sei, weil es ja immer dasselbe ist. Immer der gleiche Ablauf, immer die gleichen Fragen und Antworten. Ich kann dem nicht zustimmen. Ich finde Recruiting nach 27 Jahren nach wie vor faszinierend. Obwohl ich es sehr unstrukturiert und unwissenschaftlich mache. Ein richtig geiler Job ist das. Vielleicht wünsche ich mir deshalb mehr ältere Recruiter. Die das auch geil finden.

„Wo sehen Sie sich in 5 Jahren?“, „Was sind Ihre 3 größten Stärken?“ Genau diese Fragen stelle ich seit 20 Jahren nicht mehr. Prinzipiell nicht. Weil sie in jedem Recruiting-Ratgeber für Bewerber auch stehen.